Die Europäische Union ist eine Art diplomatischer Souk, in dem die Machtpolitik Deutschlands und die angebliche Spezialität Frankreichs zum Ausdruck kommen. Auszug aus Sergio Giraldos Essay „Das kleine Imperium. Industriekrise und Demokratiekrise in der Europäischen Union“, erschienen bei Diarkos, ab heute im Buchhandel
Mit dem Vertrag von Maastricht wird die Europäische Union zum Eroberungsfeld der Hegemonialinstinkte Deutschlands, das den Mitgliedsstaaten sein eigenes ordoliberales politisch-ökonomisches Modell aufzwingt. Darin wird dem Export die Aufgabe übertragen, die Wirtschaft voranzutreiben, was schwerwiegende politische Implikationen mit sich bringt. Tatsächlich schreibt das Modell eine Kompression der Lohndynamik, der öffentlichen Ausgaben und der Binnennachfrage, die Kontrolle der Inflation und die Eindämmung des Konsums vor, um auf ausländischen Märkten wettbewerbsfähig zu sein. Starke exportorientierte Volkswirtschaften wie die deutsche führen auf lange Sicht zu makroökonomischen Ungleichgewichten: Indem sie die Nachfrage der Länder, in die sie exportieren, vampirisieren, greifen sie auf die Kaufkraft anderer Länder zurück und bremsen so deren Wachstum bis zum Äußersten des Zusammenbruchs.
Die Wurzeln der europäischen Krise liegen daher in der Durchsetzung eines Entwicklungsmodells, das auf der Suche nach Wettbewerbsfähigkeit basiert und hauptsächlich den Hebel des Preises nutzt, d. h. der Kosten der Produktionsfaktoren. Ein Hebel, der in den letzten dreißig Jahren durch Maßnahmen zur Lohndämpfung, also auf Kosten der Arbeitnehmer, ausgeübt wurde.
Dies wäre ohne die aktive und enthusiastische Mitarbeit der politischen Linken nicht möglich gewesen, die seit den frühen 1990er Jahren in Italien und Europa zum Bannerträger des provinziellen Stellvertreters des Neoliberalismus, nämlich des Europäismus, geworden ist. Ein opportunistischer politischer Wendepunkt, der durch das Ende des Sowjetregimes ermöglicht wurde, ein Ereignis, das allzu oft als „Fall der Berliner Mauer“ klassifiziert wird, als ob das Verschwinden der kommunistischen Regierungspraxis auf eine städtebauliche Frage reduziert würde.
Das Demokratiedefizit der Europäischen Union ist kein sekundäres Problem, sondern gehört zu den ursprünglichen Ursachen ihrer eigenen Krise. Es gibt keinen wirklichen Mechanismus der politischen Verantwortung für die von der Union getroffenen Entscheidungen.
Die Europäische Union ist eine Art diplomatischer Souk, in dem die Machtpolitik Deutschlands und die angebliche Spezialität Frankreichs zum Ausdruck kommen. Im informellen Spiegelspiel in Brüssel werden die Regeln so gestaltet und interpretiert, dass sie den beiden großen Ländern passen. Diese erhebliche Aushöhlung der nationalen Ebene der politischen Entscheidungsfindung zugunsten einer oder mehrerer supranationaler Einheiten führt zu einer Verwundbarkeit in den Demokratien der ehemals souveränen Staaten, die nun zu Mitgliedsstaaten, fast zu Provinzen, degradiert sind. Ohne das Attribut der politischen Verantwortung gegenüber den Wählern wird das europäische Regierungssystem zunehmend frei von politischen und institutionellen Zwängen, d. h. absolut.
Im Streben nach einer globalen Rolle als dritte Macht im Wettbewerb mit China und den Vereinigten Staaten agiert die Europäische Union immer weniger demokratisch und wird zunehmend von oben nach unten gesteuert. Aber die Union ist kein Nationalstaat wie die USA und China, sondern eine Gruppe von Ländern, die durch ein Netzwerk von Verträgen zusammengehalten werden. […] In ihrem Versuch, sich als Weltmacht zu etablieren, ähnelt die Union eher den Umrissen eines Imperiums. Ein imperialer Bau, der aufgrund anfänglicher Baumängel nie zur Vollendung gelangen wird. Ein kleineres Imperium im Vergleich zu den beiden großen Nationalmächten USA und China.
Dies ist eine Übersetzung eines Artikels, der am Wed, 29 Jan 2025 15:04:53 +0000 im italienischen Blog Start Magazine unter der URL https://www.startmag.it/economia/sergio-giraldo-impero-minore-crisi-unione-europea/ veröffentlicht wurde.